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dpa-AFX: ROUNDUP: Wirecard-Musterprozess beginnt mit Watschn für Gericht

MÜNCHEN (dpa-AFX) - Das Wirecard-Musterverfahren um die
Schadenersatzforderungen geschädigter Aktionäre hat mit einer Überraschung
begonnen: Der 1. Zivilsenat des bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG)
zerpflückte in der mündlichen Verhandlung die Vorlage des Landgerichts München I
zu den "Feststellungszielen" des Musterverfahrens. "Die juristische Qualität des
Vorlagebeschlusses ist, sehr vorsichtig formuliert, äußerst dürftig", sagte die
Vorsitzende und BayObLG-Präsidentin Andrea Schmidt.

Auf dem Münchner Musterverfahren ruhen die Hoffnungen zehntausender
Wirecard-Aktionäre, für die die Pleite des Dax -Konzerns im Sommer
2020 Kursverluste in Milliardenhöhe mit sich brachte - beim Insolvenzverwalter
Michael Jaffé haben 50 000 Wirecard-Aktionäre Forderungen von 8,5 Milliarden
Euro angemeldet. Auf Schadenersatz geklagt haben 8500 Anleger, weitere 19 000
haben Schadenersatzforderungen angemeldet, ohne Klage eingereicht zu haben. Als
Musterkläger ausgewählt - quasi stellvertretend für die übrigen Aktionäre - hat
das Oberste Landesgericht einen hessischen Bankkaufmann, der nach Angaben seines
Anwalts Peter Mattil mit Wirecard-Papieren eine halbe Million Euro verloren hat.

Stimmung der Aktionäre "zwischen Wut und Resignation"

Anleger können dann auf Entschädigung hoffen, wenn sie wegen vorsätzlich
falscher Informationen die jeweiligen Aktien kauften. Im Fall Wirecard waren es
die mutmaßlich frei erfundenen Gewinne - mehrmals bestätigt durch die
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY. An erster Stelle der "Musterbeklagten" steht
der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun, gefolgt von EY auf Rang 2. Die
Stimmung der Aktionäre schwanke "zwischen Wut und immer noch Aggression und
Resignation", sagte am Rande der Verhandlung Daniela Bergdolt, Anwältin und
Vizepräsidentin der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz.

Das Musterverfahren soll die Aufarbeitung beschleunigen, da das Landgericht
München I ansonsten alle 8500 Klagen einzeln abarbeiten müsste. Das Bayerische
Oberste Landesgericht soll dabei grundsätzlich entscheiden, ob die Aktionäre
Anspruch auf Schadenersatz haben. Die vom Landgericht vorgelegten
Feststellungsziele sind der Katalog der Vorwürfe gegen Wirecard und EY, die im
Musterverfahren geprüft werden sollen.

Richterin watscht Gericht ab

Die Senatsvorsitzende Schmidt kritisierte, dass das Landgericht diese Punkte
viel zu allgemein formuliert habe - es darf nach Worten der Richterin nicht
unklar bleiben, welche Informationen im Einzelnen falsch gewesen sein sollen.
"Es fehlt jegliche Konkretisierung."

Der Zahlungsdienstleister war im Jahr 2020 zusammengebrochen, weil angeblich
auf philippinischen Treuhandkonten verbuchte 1,9 Milliarden Euro nicht
auffindbar waren. Das Geld wird bis heute vermisst. Gegen EY richtet sich der
Vorwurf, die mutmaßlich falschen Wirecard-Bilanzen nicht ordentlich geprüft zu
haben. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sieht hingegen keine Grundlage für
Schadenersatzansprüche.

Aktionäre können trotzdem hoffen

Das bedeutet jedoch nicht, dass die geschädigten Aktionäre die Hoffnung auf
Schadenersatz fahren lassen müssen. Musterkläger-Anwalt Mattil hat auf 800
Seiten einen eigenen Katalog von Feststellungszielen vorbereitet, die das
Gericht abarbeiten wird. Ein Urteil wird frühestens in einigen Jahren erwartet.
Ein Aktionär - und in dessen Gefolgschaft aus der Ferne auch der persönlich
nicht anwesende Musterkläger - beantragten, das Verfahren dem Münchner
Oberlandesgericht (OLG) zu übertragen./cho/DP/nas

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